Wie ein Virus die Rechtsbranche verändert
Nachdem sich die Wogen, im wahrsten Sinne des Wortes, wieder etwas geglättet haben, können wir innehalten. Zurückblicken. Versäumnisse ausmachen und gleichzeitig nach vorne blicken. Dabei müssen wir Juristinnen und Juristen gar keine Spekulationen über zukünftigen Veränderungen unserer Arbeit anstellen. Wir konnten sie bereits sehr plastisch ertasten. Vieles, was an Innovationstagungen und Legal Tech Konferenzen als Vision an Grossleinwände projiziert wurde, haben wir nun im Kleinen am eigenen Leib erfahren. Anders als prophezeit, ging es aber nicht darum, die eigene Arbeit effizienter oder angenehmer zu gestalten. Es ging ums nackte Überleben. Nicht nur wirtschaftlich.
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Keine Zukunftsvision, sondern Realität
Ortsunabhängiges Arbeiten, rein elektronische Kommunikation, Büroräumlichkeiten und die eigene Präsenz, die an Wichtigkeit verlieren? Alles gelebter Alltag während des Corona-Lockdowns – und darüber hinaus. Was von Referierenden für 2025 oder 2030 in Aussicht gestellt wurde, war auf einen Schlag da. Keine Zukunftsvision, sondern Realität. Und zwischen Vergangenheit und Zukunft lag bloss ein Wochenende, in diesem surrealen Frühjahr 2020. Das werden wir so schnell nicht vergessen. Wer sich nicht schon seit geraumer Zeit mit neuen Technologien für Kommunikation, Arbeitsprozesse und intelligente Ressourcenplanung auseinandergesetzt hat, den traf die neue Situation umso härter.
Das Bewusstsein wäre da
Doch das Selbstverständnis, dass in der Rechtsbranche alles immer so bleibt wie es war, ist bereits seit einigen Jahren am Erodieren. Dass neue Technologien die Art und Weise wie Rechtsdienstleistungen erbracht werden verändern, ist durchaus vielen Juristinnen und Juristen bewusst. Doch Veränderungsbereitschaft war dann doch eher gering. Warum etwas ändern, wenn man nicht zwingend muss? Elektronische Eingaben an Gerichten? Seit Jahren möglich, aber kaum genutzt. Qualifizierte digitale Signaturen? Gibt es schon lange, doch wer braucht das schon? Virtuelle Kollaborationsplattformen für eine sichere Kommunikation mit den Mandanten? Kein Novum, aber eine Rarität. Selbst wichtige staatliche Initiativen wie bspw. Justitia 4.0, welche eine umfassende Digitalisierung der Justiz zum Ziel hat, wurde, vielleicht in weiser Voraussicht, mit einem entspannten Zeitplan versehen. Erst bis im Jahre 2026 sollen alle an einem Justizverfahren beteiligten Parteien auf kantonaler und eidgenössischer Ebene ihre Daten elektronisch in einem zentralen Portal austauschen. Bis dahin sollen auch Papierakten durch elektronische Dossiers ersetzt und die Arbeitsumgebung in der Justiz sowie die Infrastruktur entsprechend optimiert werden. Alles enorm wichtige Schritte für die Digitalisierung der Rechtsbranche. Doch bis dahin werden noch 6 lange Jahre ins Land ziehen.
Die Rechtsbranche neu denken
Die Welt, insbesondere die Arbeitswelt, ist aber bereits heute eine andere als noch vor drei Monaten. Finden wir zurück zu den guten alten Zeiten, wie sie noch im Februar 2020 vorherrschten? Und waren es wirklich nur gute Zeiten? Gab und gibt es nicht auch in der Rechtbranche zahlreiche Aspekte, welche dringend einmal neu gedacht werden sollten? Der Zugang zur Justiz, der eigentlich jedem Bürger offen steht. Die Komplexität juristischer Verfahren. Die hohen Anwalts- und Gerichtskosten.
Auch in der Rechtsbranche gibt es noch Raum für Verbesserungen. Dass wir Juristinnen und Juristen nun die Zukunft zu spüren bekommen haben, wird den Transformationsprozess beschleunigen. Und vielleicht wirkt das Virus nicht nur wie ein Brandbeschleuniger für Prozesse, die bereits vor Jahren in Gang gesetzt wurden. Vielleicht befinden wir uns nun an einer Weggabelung. An einem eigentlichen Wendepunkt, der für massive Veränderungen in der Rechtsbranche sorgen wird und nicht nur den progressiven Akteuren endlich zum Anlass gereicht, um das Recht neu zu denken.
